Die Shortlist zum Hauptpreis beim Literaturpreis Ruhr 2020 steht fest

Die Leseliste war erfreulich lang und vielfältig. Wochenlang hat sich die fünfköpfige Jury des Hauptpreises durch dutzende Bücher aus und über das Ruhrgebiet gelesen. Jetzt steht die Shortlist mit den Titeln, die die Jury für preiswürdig erachtet, fest. Sie repräsentiert die ganze Vielfalt und Bandbreite der Ruhrliteratur: mit einem Künstlerroman, einem Debüt, einer Essaysammlung, einer Coming of Age-Geschichte und einem Familienroman.

Die Besten 5 in alphabetischer Reihenfolge:

 

Hilmar Klute „Was dann nachher so schön fliegt“ (Galiani 2018)

Das selbstironische Coming-of-Age eines dichtenden Bochumer Zivis im Westberlin der 1980er Jahre erzählt die Literaturgeschichte des Reviers: Illustrer Treffpunkt der Nachkriegs-Avantgarde, Wohn- und Schreibort von Nicolas Born und Ernst Meister, war das Ruhrgebiet eine eigene literarische Szene. Die Realität im Altenheim, fantastische Begegnungen mit der Gruppe 47 und Ränke der Literaturförderszene lehren Held und Lesende, wie mühsam Literatur das Schwere des Lebens erhebt, bis es „nachher so schön fliegt“.

 

 

Enis Maci „Eiscafé Europa“ (edition Suhrkamp 2018)

Enis Maci, die als Theaterautorin in München, Berlin und Wien Furore macht, hat mit ihren Essays in „Eiscafé Europa“ einen sehr eigenen, jungen Ton und Stil gefunden. Sie reflektiert assoziativ, aber gründlich und treffend: Feminismus, Digitalität, Künstlerarbeit sowie die eigene Herkunft zwischen Balkan und Ruhrgebiet: „You can get the girl out of Gelsen, but you can’t get Gelsen out of the girl“.

 

 

Sarah Meyer-Dietrich „Ruhrpottkind“ (Henselowsky Boschmann 2017)

Der Roman „Ruhrpottkind“ führt zurück in die Achtziger Jahre. Im Mittelpunkt steht die neunjährige Jenni, die in Gelsenkirchen bei ihrer alleinerziehenden Mutter, der Oma und ihrer kleinen Schwester aufwächst. Die bildhafte Sprache der Großmutter beflügelt nicht nur Jennis Phantasie, sie weckt auch Erinnerungen. Sarah Meyer-Dietrich lenkt den Blick unsentimental, hintergründig und voller Humor auf eine Welt aus Gegensätzen.

 

 

Eva Sichelschmidt „Bis wieder einer weint“ (Rowohlt 2020)

Eva Sichelschmidt seziert in „Bis wieder einer weint“ ein Familienleben bis ins schmerzhafte Detail. Der Erfolg der Adenauerjahre soll den tragischen Verlauf einer anfangs glücklichen Liebe vertuschen, die Folgen werden auch bei der Generation danach noch zu spüren sein. Scharf analysiert die Autorin die Gesellschaft, zeichnet klare Charaktere und schafft eine beklemmende Atmosphäre. Ein lesenswerter Nachkriegsroman über den Mythos des deutschen Aufstiegs und die menschliche Wahrheit dahinter.

 

Karosh Taha „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ (Dumont Verlag 2018)

Karosh Taha verfügt über eine genaue Beobachtungsgabe und beschreibt die Bewohnerinnen und Bewohner der irakisch-kurdischen Community in ihrem Debüt treffend, einfühlsam und nur in den nötigsten Fällen entlarvend. „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ mit der rebellischen Sanaa im Zentrum ist ein wichtiges Buch über junge Frauen aus Einwandererfamilien, über die wir sonst wenig lesen. Schon gar nicht in diesem ungewöhnlichen Ton: Karosh Taha schreibt zugleich poetisch, frech und mit befreiendem Humor.

 

 

Die nominierten Autor*innen

Foto: Jan Konitzki

 

Hilmar Klute, geboren in Bochum, ist Streiflicht-Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat einige Bücher veröffentlicht, darunter den zeitkritischen Essay Wir Ausgebrannten (2012). 2015 erschien bei Galiani seine »ebenso kluge wie gründliche und liebevolle« (FAZ) Ringelnatz-Biografie War einmal ein Bumerang. Sein literarischer Debütroman Was dann nachher so schön fliegt erschien 2018 und wurde von der Presse hochgelobt. Hilmar Klute lebt in Berlin.

 

Foto: Max Zerrahn

Enis Maci, geboren 1993 in Gelsenkirchen, hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Kultursoziologie in London studiert. 2010 gewann sie den Förderpreis des Literaturpreis Ruhr. Ihr erstes Stück, Lebendfallen, wurde 2018 am Schauspiel Leipzig uraufgeführt. 2018 und 2019 wurde sie in der Kritikerumfrage von Theater heute zur »Nachwuchsdramatikerin des Jahres« gewählt. 2019 war sie für das im Wiener Schauspielhaus aufgeführte Stück Mitwisser für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. In der Spielzeit 2018/19 war Enis Maci Hausautorin am Nationaltheater Mannheim und Stipendiatin der Villa Concordia.

 

 

Foto: Frank Vinken

Sarah Meyer-Dietrich wurde 1980 geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Studium der Wirtschafts- und Kulturwissenschaften in Bochum und Hagen. Promotion in Bochum; sie war von 2012 bis 2016 hauptberuflich Geschäftsführerin und Projektmanagerin im Friedrich-Bödecker-Kreis NRW e. V., seit Sommer 2016 arbeitet sie als freie Autorin. Sarah Meyer-Die­trich ist u. a. Gewinnerin des Förderpreises des Literaturpreis Ruhr 2014 und des Ruhrgebietsliteraturwettberbs 2015.

 

Foto: C.-Jürgen Bauer

 

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft »Whisky & Cigars« eröffnete. 2017 erschien ihr erster Roman, Die Ruhe weg. Sie lebt in Rom und Berlin.

 

 

 

Foto: Havin Al-Sindy

Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet. Sie absolvierte ein Lehramtsstudium an der Universität Duisburg-Essen sowie in den USA und war als Lehrerin für Englisch und Geschichte an einem Essener Gymnasium tätig. Für ihre Texte wurde sie mit verschiedenen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, u. a. mit dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium und dem Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen.

 

 

 

Für den Hauptpreis in Frage kamen Titel aus dem Ruhrgebiet und über das Ruhrgebiet, die in den vergangenen drei Jahren (Januar 2017 bis Ende Februar 2020) erschienen waren. Erstmals konnten auch im Selbstverlag veröffentlichte Bücher gemeldet werden.

Insgesamt standen 66 literarische Werke aus unterschiedlichen Genres auf der Leseliste.